Samstag, 16. Juni, 22 Uhr, Garmisch-Partenkirchen. Es ist ein milder Abend in der Stadt am Fuße der Zugspitze. Die Sonne ist vor einer guten halben Stunde untergegangen. Man könnte noch ein wenig draußen sitzen. Einen Aperol trinken vielleicht. Oder ein Bier. Den Abend ausklingen lassen. Und dann ins Bett fallen. Doch da ist jetzt Musik zu hören. Zwischen geduckten Häusern blitzen Kopflampen auf. Sie gehören den gut 600 Läufern, die jetzt an den Start gehen. Jetzt, um 22 Uhr am 16. Juni in Garmisch-Partenkirchen. Der Zugspitz-Ultratrail hat begonnen! 111 Kilometer und mehr als 5.000 Höhenmeter liegen vor ihnen. Rennen, klettern, keuchen, stolpern, stöhnen. Wer hier mitläuft, ist völlig durchgeknallt. Oder einfach nur geil auf einen richtig schönen langen Lauf durchs Gebirge, der den Körper mit Laktat und Endorphinen flutet. Steven Lambeck vom Brockenlaufverein Ilsenburg ist einer von ihnen.
Bei Steven ist es nicht so, dass er nicht weiß, was er tut. Der 52-Jährige hat zweimal den Rennsteigmarathon und sechsmal in Folge den Brockenmarathon beim Harzgebirgslauf gewonnen. Steven kann lang und schnell und anstrengend. Er hat viele Marathons, viermal den 100-Kilometer-Lauf im thüringischen Fröttstädt, einmal die Brockenchallenge von Göttingen auf den Gipfel, viele Male den Brockenlauf, 160 Kilometer beim Mauerwegelauf in Berlin gerockt. Warum das alles? „Keine Ahnung. Erklären kannst du das nicht“, sagt Steven. „Das ist vielleicht eine Sache, die ich besser kann als andere.“ Für ihn sei es spannend, sich zwölf Wochen auf den Tag x vorzubereiten. „Ein Rädchen greift dabei ins andere.“ Zu seiner besten Zeit, berichtet er, habe er häufig zweimal am Tag trainiert. 140 bis 150 Kilometer lief er in der Woche. „Ich hatte nie dieses wirkliche Talent“, sagt er, „ich musste viel tun.“
Nicht das wirkliche Talent? Es ist für Durchschnittsläufer schwer, das so zu sehen.
Zurück nach Garmisch. „Den Start am Abend fand ich toll“, sagt Steven. Zunächst geht es über Straßen und Radwege, und es ist noch ziemlich eng. Aber nach 10/15 Kilometern haben sich die Läufer dann gut verteilt. Und dann wird es auch holpriger, trailiger. „In höheren Regionen musstest du aufpassen, nicht zu stolpern“, erinnert sich Steven. Seine Stirnlampe ist dabei seine Unfallversicherung. Zumindest bis kurz nach 4. „Da kam die Sonne raus, und es war eine sehr schöne Stimmung.“ Es ist allerdings auch frisch: Während die Menschen im Tal in ihren Betten schwitzen, sind es oben auf dem Berg nur um die drei Grad.
Beim Zugspitz-Ultratrail geht es hoch hinauf: Bereits nach 35,5 Kilometern ist mit dem Wannigsattel der höchste Punkt des Wettkampfs erklommen – auf 2.182 Metern. Da hat Steven schon 2.320 Höhenmeter in den Beinen. „Konditionell hatte ich keine Probleme“, sagt er. Hier oben kämpfen sich die Läufer durch Schneefelder, manche stürzen. Steven lässt es laufen. „Bis 75 Kilometer ging es echt gut.“ Die hat er nach 13,5 Stunden am Schloss Elmau erreicht – dort, wo sich einst mit den G7 die Mächtigen dieser Welt getroffen haben.
Die Beine sind stark, das Herz pumpt kräftig, und die Lunge macht ihren Job klaglos. Doch Steven hat – wie so oft bei langen Läufen – Probleme mit dem Magen. „Ich konnte fast nichts mehr essen, kaum trinken“, sagt er. Er bekommt immer nur ein paar Schluck hinunter, mal einen Riegel. Die Verpflegung an den insgesamt zehn Stationen sei gut gewesen, aber nicht so gut wie etwa beim Rennsteiglauf. Doch er läuft ohnehin mit Rucksack, hat immer etwa einen Liter Flüssigkeit dabei. Gegen die Müdigkeit helfen Koffein-Gels und Gummibärchen mit Koffein.
Hinter Elmau geht es noch mal steil bergauf. Von 1.020 auf über 2.000 Meter. Steven stört das kaum. Er hat vorher Bergläufe zu Hause in Thüringen trainiert, ist einmal pro Woche Strecken mit 1.300 Höhenmetern gelaufen. „Bergan komme ich gut zurecht“, sagt er. Schwieriger sind für ihn die technischen alpinen Abschnitte. „Ohne Stöcke kommst du hier nicht zurecht“, sagt er.
Dennoch: Auch wenn die technischen Daten des Ultratrails an der Zugspitze beängstigend klingen, hält Steven ihn sogar für „Mittelgebirgsläufer“ für gut machbar. „Ich war mir sicher, dass ich das durchziehen kann“, sagt er rückblickend. Schließlich sei das einer der Alpenläufe, die nicht zu technisch seien – also bei denen man mehr läuft als klettert. Steven hat sich vorher in Komoot die Strecke angeschaut, hat Zeit-Szenarien durchgespielt – und während des Laufs immer nur die nächsten zehn Kilometer im Blick gehabt.
Seine Strategie geht am Ende auf: Nach 21 Stunden und 20 Minuten erreicht Steven als 200. gut gelaunt das Ziel. Hut ab! Bis auf ein paar Probleme mit der früher einmal operierten Achillessehne geht es ihm gut. Sein Plan steht fest: „Ich mache jedes Jahr etwas, was ich noch nicht gemacht habe“, sagt er. Und er meint: einen Lauf mit mehr als 100 Kilometern.
Jetzt stehen erst mal die 100 Kilometer in Fröttstädt an. Zwei Wochen nach dem Zugspitz-Ultratrail. „Das ist ein bisschen unvernünftig“, sagt Steven. „Das gebe ich zu.“ Laufen wird er trotzdem. Natürlich.
(Das Foto von Steven vor Schloss Elmau hat uns Sportograf zur Verfügung gestellt)